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Konstitutionalisierungsprozesse für den Kommunikationsraum Internet

Konstitutionalisierungsprozesse für den Kommunikationsraum Internet

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Pascal Schumacher

Angesichts seiner Tendenz zur Globalisierung und Entgrenzung sieht sich die Politik im Internet zunehmend mit Regelungsdefiziten konfrontiert. Vor diesem Hintergrund wird es immer wichtiger, zunächst die Grundlagen einer wirksamen Rechtsordnung für den Cyberspace zu erforschen. Grundwerte, wie sie in nationalen Verfassungen und internationalen Menschenrechtserklärungen enthalten sind, müssen für die Welt des Internets reformuliert und angepasst werden, um ihre Prägkraft im Internet zu entfalten. Nur wenn sie ein internetspezifisches und -adäquates Verständnis von Grundrechten entwickelt, wird es der Netzpolitik gelingen, die Regelungsprobleme in den Griff zu bekommen.

Manche bezeichnen dieses Ziel als eine übergesetzliche Grundordnung, einen globalen Kodex zur Sicherung der Freiheits- und Bürgerrechte im Cyberspace zu schaffen, als Magna Carta des 21. Jahrhunderts. Andere wollen eine Übertragung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf das Internetzeitalter. Die Vereinten Nationen haben bereits 2003 klargestellt, dass diese die Grundlage auch für die Informationsgesellschaft sein muss. Wieder andere formulieren eigene Erklärungen nach dem Prinzip eines „Bill of Rights“.

Da sich Wertestrukturen zumindest in westlich geprägten Gesellschaften in den Verfassungen abbilden, muss diese Entwicklung in jedem Fall von netzadäquaten Grund- und Menschenrechten geleitet sein (Internet als Verfassungsraum). Es genügt nicht mehr, hergebrachte Maßstäbe und Bewertungen aus der analogen Welt unbesehen auf das Internet übertragen zu wollen. Die Beispiele Zensursula, ACTA und Netzneutralität aber auch der Erfolg der Piraten als politische Kraft oder die Rolle des Internets bei den Revolutionen im arabischen Raum zeigen, dass die technischen, sozialen und kulturellen Spezifika des Netzes eine Anpassung von grundlegenden Werten und eine Neubewertung von konkurrierenden Rechtsgütern erfordern. Gesucht wird eine zeitgemäße Interpretation, eine Ordnung digitaler Grundrechte.

Langfristig könnte eine übergreifende internationale Internetverfassung nicht nur einen verbindlichen Rahmen für die Handlungen der globalen Akteure vorgegeben, sondern zugleich eine Koordination der verschiedenen Teilordnungen. Eine derartige Grundordnung des Internet muss nicht notwendigerweise eine dem staatlichen Verfassungsrecht vergleichbare Gestalt und Dichte annehmen. Die Herausbildung verfassungsrechtlicher Prinzipien mit Fortentwicklung wäre bereits als bedeutender Entwicklungsschritt anzusehen und sich als Ausdruck der Herausbildung eines „Verfassungsraums Internet“ verstehen.

Ziel ist die Herausbildung einer grundlegenden Ebene der Konstitutionalisierung des internationalen Rechts und der internationalen multi-stakeholder Beziehungen. Der Begriff der „Konstitutionalisierung“ soll hier eine Ordnung von Grundwerten, institutionellen Zuständigkeiten und Handlungsformen bezeichnen in welche die Internet Governance schließlich einmünden und sich normativ verfestigen kann.

Die Ebene der „Konstitutionalisierung“ würde

  • über das rein zwischenstaatliche Recht hinausreichen und auch nichtstaatliche Akteure wie die grenzüberschreitend organisierte Zivilgesellschaft, aber auch gestaltungsmächtige privatrechtlich organisierte Wirtschaftsakteure wie transnationale Unternehmen und internationale Industrieverbände unter die Herrschaft des Rechts einordnen;
  • ferner auf der globalen Ebene für wirtschaftsvölkerrechtliche Organisationen, insbesondere die WTO, ein höheres Maße an Transparenz und demokratischer Verantwortung für Handlungen und Rechtsakte schaffen, die den einzelnen Bürger wirtschaftlich-existentiell betreffen;
  • neben den Grund- und Menschenrechten auch Rechtsbereiche wie das Umwelt- und das heranwachsende Entwicklungsvölkerrecht systematisch in das Internet Governance Regime einbinden.


Der Schwerpunkt des Konstitutionalisierungsprozesses liegt, ganz wie im nationalen Verfassungsrecht, auf der Kontrolle der Herrschaftsakteure, dem Schutz gegen Willkür, der Rechtssicherheit, der weltbürgerschaftlichen Partizipation. Unter „völkerrechtlicher Konstitutionalisierung“ wird nicht etwa eine Extrapolation des Nationalstaates auf die Weltebene (eine Weltregierung) verstanden. Im Gegenteil, es geht um einen exploratorischen Prozess, dessen letzte Finalität im Sinne einer festen Rechtsinhalts- und Kompetenzordnung noch nicht klar ist. Vieles spricht dafür, dass wir im Völkerrecht auf dem Weg zu einem normativen „Mehrebenen-Verbund“ sind, d.h. zu einer Vernetzung und Verschränkung nationaler, regionaler und globaler konstitutioneller Elemente.

Konstitutionalisierung als normativ-rahmengebende Antwort auf die Globalisierung beinhaltet eine bessere internationale Koordinierung der politik einhergehend mit ausgeprägter Solidarität, stärkerer Rahmengebung für die Tätigkeit von transnationalen Unternehmen, Banken und Finanzinstitutionen und eine engere Zusammenarbeit in den internationalen Organisationen und deren Stärkung in Richtung größerer politischer Beweglichkeit und demokratischer Legitimation. Ein weiteres Charakteristikum ist die Stabilisierung von Rechtsstaat und Menschenrechten durch „Weltöffentlichkeit“ als Folge globalisierter Medien wie dem Internet. Insbesondere mit Social Media gibt es neue Formen des Ausdrucks kollektiver Willensbildung und Interessenvertretung, die es vielleicht seit dem Entstehen der Gewerkschaftsbewegung im 19. Jahrhundert nicht mehr gegeben hat. Und die Verhältnisse sind so, dass die Menschen hierauf mehr und mehr zurückgreifen werden. Der Widerstand gegen ACTA hat gezeigt, dass mit den neuen Kommunikationsmitteln eine europaweite Öffentlichkeit entstanden ist, die bisher von vielen als unmöglich eingestuft wurde.

Der Konstitutionalisierungsprozess folgt zwei durchgängigen Kriterien:

  • „Rule of law“: Das bedeutet, dass die vereinbarten normativen Prinzipien und Regeln auch dann gelten sollen, wenn das Interesse des einzelnen Akteurs gegenläufig ist. Der Fluchtweg in einseitige Interessenwahrung ist dann grundsätzlich versperrt.
  • „Inclusiveness“ als Leitprinzip: Das bedeutet, kein Teil der Menschheit soll entwicklungspolitisch, sicherheitspolitisch und hinsichtlich der Gewährleistung der Menschenrechte außerhalb des solidarischen Verbands stehen. Während die Entwicklungsökonomik unter einer Reihe von Annahmen plausibel machen kann, dass eine Welt der Inclusiveness Wohlfahrtsgewinne für alle mit sich bringen kann, müsste für die internationale politische Arena nachvollziehbar der überzeugende Nachweis erbracht werden, dass nicht nur die Schwachen, sondern auch die Starken in der Globalisierung besser fahren, wenn sie auf die Möglichkeit des Unilateralismus verzichten und sich ein für allemal der Herrschaft von Regeln und regelbasierten Institutionen unterwerfen.


Klar ist: Die Herausbildung allgemeingültiger Grundwerte für das Internet beginnt mit einem langwierigen und unorganisierten Prozess, an dessen Anfang wir gerade erst stehen. Sein Ausgang ist noch ungewiss. Dies gilt umso mehr, als zeitgleich eine Fragmentierung der Rechtssysteme und die Herausbildung netzwerkartiger Strukturen erfolgen. Auch die Netzwerkstrukturen müssen sich jedoch letztlich zu einem harmonischen Miteinander verbinden. Vieles spricht daher dafür, Netzwerkbildung und Konstitutionalisierung als zusammen wirkende und sich gegenseitig ergänzende Ausprägungen einer Gesamtentwicklung zu begreifen, deren wesentliches Kennzeichen einer Verstärkung der übergesetzlichen Bindungen im Kommunikationsraum Internet ist. Diese können sich im Sinne der Netzwerkidee gleichsam horizontal bzw. vertikal als Konstitutionalisierung auswirken. Das Potenzial dieser beiden Entwicklungsstränge ist erheblich. Zumindest langfristig ist nicht ausgeschlossen, dass sich entlang international anerkannter Grundwerte ein weltumspannendes, vielfach verschränktes Grundwertesystem entwickelt.

Neben formalen internationalen Vereinbarungen, wie beispielsweise der Satzung der Vereinten Nationen, oder zwingendem Völkerrecht (ius cogens), können sich gemeinsame Grundwerte für das Internet auch „generisch“ entwickeln.
Vgl. Studie USA, Kanada: Eine der spannendsten Beobachtungen ist, dass in den letzten Jahren Teilaspekte einer „generischen Verfassung” entstanden sind: Einige Rechtsinstitutionen sind heute nahezu universell anzutreffen. Und das ist neu. Law und Versteeg listen neun Rechte auf, die in 90% und mehr der Verfassungen der Welt zu finden sind, von der Religions- und der Meinungsfreiheit, Gleichheit, Eigentum (diese vier mit je 97%), über Privacy, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit bis hin zu Frauenrechten. 1986 gab es nur zwei Rechte mit einem Verbreitungsgrad von über 90%, 1976 kein einziges. Die durchschnittliche Zahl von Grundrechten, die eine Verfassung enthält, liegt bei 25. Und die 25 verbreitetsten Rechte gibt es in mehr als 70% aller Verfassungen. Diese 25 Rechte bezeichnen Law und Versteeg als „generische Verfassung“, oder als „a hypothetical bill of rights that expresses the mainstream of global constitutionalism…“ Überhaupt ist die Verbreitung fast aller der 60 von Law und Versteeg identifizierten Rechte über die Jahrzehnte gestiegen, teilweise sehr schnell und dramatisch wie das Recht auf gesunde Umwelt (1966: 1%, 2006: 63%). Nur zwei Rechtsinstitutionen haben überhaupt an Verbreitung verloren: Die Etablierung einer offiziellen Staatsreligion (1946: 39%, 2006: 22%). Und das Recht, Waffen zu tragen: Das gab es 1946 immerhin noch in 10% aller Verfassungen, 2006 nur noch in zwei. Dann ist es aber gerade wichtig, die nationalen Verfassungen für das Internet anzupassen! Denn die Herausbildung allgemeingültiger Grund- und Menschenrechte ist stark vom Vorbildcharakter einzelner Verfassungsdokumente getrieben. --> momentan liegt Kanada vorne.)

Zum materiellen Kern einer solchen Werteordnung sind zuvorderst die Menschenrechte zu zählen. Nach derzeitigem Entwicklungsstand lässt sich auf universeller Ebene noch nicht vom Bestehen eines hinreichenden Grundrechtsschutzes für den Kommunikationsraum Internet sprechen. Diese Funktion können auch die internationalen Menschenrechtspakte über bürgerliche und politische bzw. wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nicht erfüllen. Internationale Menschenrechte sind vielfach unbestimmt und gerichtlich nicht wirksam abgesichert. Ein weltweiter allgemeiner Menschenrechtsstandard besteht nach wie vor nicht.

Auf regionaler Ebene verfügen internationale Menschenrechte teilweise über eine deutlich höhere normative Durchsetzungskraft. Dies ist nicht zuletzt auf die Existenz effektiven Individualrechtsschutzes zurückzuführen. Musterbeispiel sind insoweit die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention. Diese haben zur Verwirklichung eines Grundrechtsstandards beigetragen der weit über den zahlreichen Staaten außerhalb ihres räumlichen Geltungsbereichs hinausgeht. Perspektivisch können sich die Menschenrechte als Motor bei der Herausbildung eines Verfassungsraums Internet erweisen. Im Zeitalter der globalen Kommunikation wächst die weltweite Sensibilität für Menschenrechtsfragen. Sie macht es Staaten zunehmend schwerer, sich auf internationaler Ebene menschenrechtlichen Anforderungen zu entziehen oder gar deren Entfaltung zu behindern. Die Herausbildung einer internationalen Wertordnung, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt und der staatlichen Souveränität vergleichsweise enge Grenzen zieht, erweist sich zugleich als qualitativer Sprung in der Entwicklung des Völkerrechts.

Entscheidende Bedeutung für die Verwirklichung einer solchen Wertordnung kommt schließlich der Existenz effektiven Durchsetzungsmechanismen zu. Das Beispiel des internationalen Menschenrechtsschutzes führt deutlich vor Augen, dass insbesondere das Bestehen einer wirksamen Rechtsschutz gewährleistenden internationalen Gerichtsbarkeit für die Durchsetzung der von den Staaten eingegangenen Bindungen und unverzichtbar ist. (((Bisher nur rudimentär ausgeprägt die wenigen bestehenden Gerichte verfügen nur über begrenzte Entscheidungskompetenzen und können nur mit dem Einverständnis der Streitparteien tätig werden. Lösung von Konflikten obliegt daher weit in den Akteuren selbst, die dadurch weniger rechtlich als politisch erfolgt.)))

Obwohl das gegenwärtige System gerade für die beteiligten Staaten attraktiver ist, als eine verpflichtende Gerichtsbarkeit, ist in neuerer Zeit ein Umdenken festzustellen. Zwar ist nach wie vor die Entstehung einer umfassenden obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit nicht absehbar. Zunehmend kommt es aber regimebezogen zur Schaffung gerichtlicher Instanzen. Deren Kompetenzen gehen über die traditioneller internationaler Gerichtsbarkeit hinaus, sodass nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Entwicklung feststellbar ist. In ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen ist auch die Einrichtung der internationalen Strafgerichtsbarkeit, die einzelne Person für ihr Handeln zur Verantwortung ziehen kann die damit einhergehende Herausbildung eines internationalen Strafrechts verdeutlicht zugleich die Existenz grundlegender Werte der internationalen Gemeinschaft, deren Verletzung als so wesentlicher Verstoß angesehen wird, dass es einer individuellen Ahndung bedarf. Auch diese Entwicklung lässt sich als Ausdruck einer Konstitutionalisierung begreifen, die für das Internet Leitbildcharakter haben kann. Allerdings steht sie noch weit am Anfang. Ein einheitliches Verständnis der sich herausbildenden materiellen Wertordnung bedarf eines deutlich intensiveren Zusammenwirkens und einer rechtlichen Koordination der internationalen Gerichte. Einzubeziehen sind darüber hinaus auch die nationalen Gerichte. Diese werden sich zunehmend mit grenzüberschreitenden internetspezifischen Fragestellungen konfrontiert sehen und können daher ebenfalls einen wichtigen Beitrag zum materiellen Konstitutionalisierung des Cyberspace leisten.

Autor
Linda Walter
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