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Nutzung von Social Media zur Information und Mobilisierung

Nutzung von Social Media zur Information und Mobilisierung

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Benjamin Titze, Julius van de Laar, Helga Hansen, Anna Groß, Simone Rafael

Inhaltsverzeichnis

Social Media als Mittel, Informationen zu teilen und Aufmerksamkeit zu generieren


Social Media – z.B. soziale Netzwerke, (Mikro-) Blogs oder Videoplattformen – sind die schnellste und flexibelste Technologie, um in der heutigen Welt Informationen zu verbreiten und Aufmerksamkeit zu generieren. Davon kann auch der Einsatz für die Menschenrechte profitieren: Informationen über konkrete Menschenrechtsverletzungen, sowie Aktionen dagegen, können zeitnah verbreitet werden, eine Grundvoraussetzung, um positive Veränderungen zu bewirken.

Informationen sind jedoch nur der erste Schritt, dem eine nachhaltige Mobilisierung folgen muss. Durch geschicktes digitales „Storytelling“, das die Menschen sowohl emotional als auch rational anspricht, kann das virale Potential von Social Media optimal zur Mobilisierung genutzt werden. Vor einer Übervereinfachung komplexer Themen muss jedoch gewarnt werden. NGOs müssen sich außerdem daran messen lassen, ob Online-Aktivismus (von Kritikern oft als „Clicktivism“ bezeichnet) wirklich zu sichtbaren positiven Veränderungen führt.

Social Media sind sowohl für Menschenrechtsaktivisten vor Ort als auch NGOs ein nützliches Werkzeug, jedoch für sich allein kein befreiendes Allheilmittel. Die im Westen geprägten Begriffe von Facebook- oder Twitter-Revolution übertreiben die tatsächliche Rolle, die Social Media bei den Umstürzen des „Arabischen Frühlings“ gespielt haben.

Der freie Informationsfluss und das große Mobilisierungspotential von Social Media sind repressiven Regierungen ein Dorn im Auge. Dies führt verstärkt zu Überwachung, Zensur und Manipulation von Social Media, was Menschenrechtsaktivisten in diesen Ländern vor große Herausforderungen stellt.

Neben der positiven Nutzung für die Menschenrechte darf nicht vergessen werden, dass Social Media auch von menschenrechtsfeindlichen Gruppierungen oder Individuen missbraucht werden, in Deutschland beispielsweise von Neonazis. Positionen, die in direktem Kontakt gesellschaftlich tabuisiert sind, werden gezielt über Social Media verbreitet, um einen Normalisierungseffekt zu erzielen. Hier muss die Netzgemeinschaft effektive Gegenstrategien entwickeln und für eine menschenrechtsbasierte Gesprächs- und Streitkultur im Internet gemeinsam Verantwortung übernehmen.

Perspektive „Information“

Social Media als Mittel, Informationen zu teilen und Aufmerksamkeit zu generieren

Social Media ermöglichen es, einfacher und schneller als je zuvor, Themen und Probleme öffentlich zu machen. Jede und jeder kann sich äußern und auf Missstände aufmerksam machen. Konnten Firmen und Organisationen früher Beschwerdebriefe in Ablagen verschwinden lassen, wird die Kommunikation über Facebook und Twitter öffentlich geführt – Aktivisten/-innen können sehen, was ihre Mitstreiter/innen geschrieben haben und sich einfacher unterstützen. Darüber hinaus ergeben sich im Web 2.0 vielfältige Möglichkeiten, Anliegen verständlich aufzubereiten. Meldungen können in Echtzeit eingehen und gespeichert werden, Nachrichten darüber hinaus aus verschiedenen Quellen aggregiert und über weitere Kanäle verbreitet werden.

Inzwischen gibt es eine Reihe von Beispielen für die kreative Umsetzung von Aktivismus im Internet unter Nutzung sozialer Medien. Auf Facebook müssen sich z.B. Unternehmen für gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen ihrer Arbeiter/innen verantworten, vergangenes Jahr z.B. die Luxusmarke Versace. Unzählige Demonstrationen verbreiten sich inzwischen als Facebook-Events und informieren selbst diejenigen, die nicht teilnehmen können. Über Twitter werden täglich diverse Themen diskutiert. Dabei können länder- oder szenespezifische Diskussionen weltweit verfolgt werden und es nehmen Menschen aus aller Welt daran teil. Dies funktioniert über sogenannte Hashtags: Hinter das Rautenzeichen # wird ein Schlagwort geschrieben, über das alle verwandten Tweets (Mitteilungen auf Twitter) gefunden werden können. Zuletzt wurden etwa unter #ididnotreport Geschichten von sexuellen Belästigungen und Übergriffen geschildert sowie die Gründe, die Vorfälle nirgendwo anzuzeigen.

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In Kairo ist mit dem Projekt HarassMap ein wahrer „Exportschlager“ entstanden. Die Webseite sammelt Berichte von Belästigungen über SMS, E-Mail und Twitter und zeigt sie auf einer virtuellen Karte Kairos. Nachrichten von Onlinemedien werden ebenfalls zusammengetragen. Opfer von Belästigung haben somit erstmals die Möglichkeit, ihre Erfahrungen auszutauschen. Aus abstrakten Umfrageergebnissen wird eine Chronologie an Ereignissen. So wird das Ausmaß des Problems deutlich, während die oft vorgetragenen Anschuldigungen an die Opfer und Verharmlosungen der Vorfälle einmal in den Hintergrund treten. Außerdem verweisen die Seiten auf Organisationen, die Betroffenen helfen. Die Idee wurde inzwischen auch in anderen Ländern und Städten aufgegriffen.

Nicht nur Text-Inhalte, sondern auch Bilder und Videos können über Social Media schnell und weit verbreitet werden. Ob der exzessive Einsatz von Pfefferspray bei Studenten/innen-Protesten in den USA oder das brutale Vorgehen gegen Demonstranten im Iran und anderen Ländern – hochgeladene Fotos und YouTube-Clips dokumentieren Menschenrechtsverletzungen und verschaffen ihnen Aufmerksamkeit.

Durch die vergleichsweise geringen Hürden zur Teilnahme ermöglichen soziale Medien einen ganz neuen Austausch bei der Arbeit zur Einhaltung der Menschenrechte. Übergriffe können öffentlich dokumentiert werden und den Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind. Gleichzeitig können ihnen mehr Ressourcen an die Hand gegeben werden als jemals zuvor. Schließlich können Aktivisten/-innen aus der ganzen Welt miteinander in Kontakt treten, voneinander lernen und Ideen adaptieren.

Perspektive „Mobilisierung“

Mobilisierung 2.0: Echter Impact oder reiner „Clicktivism“?

Lässt sich der Status quo durch Social Media verändern?

Facebook statt Demo: Wo früher noch protestiert wurde, wird heute „ge-liked“, „ge-posted“ und „retweeted“. Angesichts der breiten Berichterstattung über die Rolle der Sozialen Netzwerke im Arabischen Frühling ließe sich das zumindest vermuten. Immer wieder ist zu hören, die „Twitter-Revolution“ habe Mubarak, Gaddafi und Co. zu Fall gebracht. Sogar afrikanische Kriegsverbrecher sollen mit Hilfe von Social Media überführt und zur Rechenschaft gezogen werden: Die „Kony 2012“-Kampagne, die mit ihrem Online-Video binnen sechs Tagen mehr als 100 Millionen Menschen erreichte, sorgte nicht nur im Netz, sondern auch offline für Furore. Mit etwas Zynismus lässt sich daraus schnell die These ableiten, dass Social Media unverzichtbar sind, wenn sich am Status quo etwas ändern soll. Doch welchen Einfluss haben die Millionen von Klicks wirklich?

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Fakt ist, dass Social-Media-Kanäle wie Facebook, Twitter und YouTube völlig neue Möglichkeiten geschaffen haben, um eine große Anzahl von Menschen innerhalb kürzester Zeit zu erreichen. Netzwerkeffekte erhöhen die Reichweite von geteilten Informationen und die Geschwindigkeit, mit der sich diese verbreiten. Im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen können Soziale Netzwerke daher wie Brenngläser wirken, die menschliche Empörung und Engagement fokussieren. Doch wie lassen sich diese neuen Möglichkeiten nutzen, um Menschenrechte effektiv zu schützen?

Hier ist zwischen zwei Gruppen zu unterscheiden: Zum einen gibt es die Aktivisten, die vor Ort in ihren jeweiligen Ländern gegen Menschenrechtsverletzungen kämpfen – wir alle können uns an einzelne Schicksale erinnern, wie z.B. an die Selbstverbrennung des Tunesiers Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 oder die Iranerin Neda Agha-Soltan, die während der Proteste gegen die iranischen Präsidentschaftswahlen 2009 erschossen wurde. In beiden Fällen haben Aktivisten über Social Media von diesen Vorfällen berichtet; es ist ihnen gelungen, in kurzer Zeit viele Mitstreiter zu mobilisieren und den Gräueltaten ein Gesicht zu geben, was auch die internationale Presse aufmerken ließ.

Zum anderen gibt es die großen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch, die Social Media verstärkt nutzen, um ihre Unterstützerbasis zu vergrößern und über Menschenrechtsverletzungen zu informieren – mit dem Ziel, Menschen für konkrete Aktionen zu gewinnen und zu mobilisieren.

Mit Blick auf beide Gruppen muss festgestellt werden: Social Media allein sind keine befreiende Kraft, sondern lediglich ein Werkzeug. Der Begriff Twitter- oder Facebook-Revolution, der im Westen oft benutzt wurde und wird, ist irreführend. Zum einen wird die Rolle, die Social Media bei den Revolutionen gespielt haben, nachweislich überschätzt, zum anderen waren es viele verschiedene Faktoren, welche die Umstürze in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern ermöglicht haben. Social Media haben dabei sicherlich eine Rolle gespielt, aber nicht die entscheidene.

Um einen nachhaltigen Erfolg zu gewährleisten, muss aus dem virtuellen Engagement auch eines in der realen Welt werden. Kritiker bezeichnen Aktivismus in der Social-Media-Sphäre oft als „Clicktivism“, als eine Art des Aktivismus, der das „Feel good“ des Klickens über das „Do good“ des effektiven Einsatzes stellt. Doch dies wiederum erscheint als eine zu einfache Betrachtungsweise.

Aktionen in Sozialen Netzwerken können dazu dienen, Menschen, die zuvor keinen Bezug zu Menschenrechtsverletzungen hatten, in kleinen Schritten zu sensibilisieren und für ein weiterführendes Engagement zu gewinnen. Große Unterstützerzahlen sind zudem von unschätzbarem Wert für die öffentliche Wahrnehmung und verleihen politischen Forderungen Gewicht.

Um potentielle Unterstützer erfolgreich zu mobilisieren, müssen NGOs sowohl auf emotionaler als auch auf rationaler Ebene die richtige Ansprache wählen. Was hier zählt, ist geschicktes „digitales Storytelling“. Menschen teilen online am ehesten etwas, wenn sie die Inhalte emotional bewegen. Entscheidend für erfolgreiche Online-Mobilisierungskampagnen sind insbesondere zwei Faktoren: eine klar erkennbare „Crisitunity“ und stringente „Theory of Change“. Mit „Crisitunity“ (von „Crisis“ und „Opportunity“) ist das Ausnutzen eines kritischen Wendepunkts gemeint (z.B. eine anstehende politische Entscheidung vor Parlamentswahlen), mit „Theory of Change“ eine klare Kommunikation der Strategie einer Kampagne.

Unterstützer müssen das Gefühl haben, die Logik des Vorgehens zu verstehen und die Resultate überprüfen zu können. Ein Problem dabei ist die Übervereinfachung der oft komplexen Themen. Die Online-Kampagne „Kony 2012“ hat eindrucksvoll gezeigt, welches Mobilisierungspotential Social Media haben, aber auch, wie schwierig oder sogar unmöglich es ist, komplexe Sachverhalte angemessen darzustellen.

Auf der Seite der Menschenrechtsaktivisten in betroffenen Ländern steht die Nutzung von Social Media vor vielen Herausforderungen: Repressiven Regimen sind Social Media ein Dorn im Auge, was Überwachung, Zensur und Manipulation der Dienste zur Folge haben kann. Organisationen, die auf die Arbeit von Aktivisten zurückgreifen, sollten deshalb ihr Möglichstes tun, diese zu schützen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Social Media als mächtiges Mobilisierungswerkzeug gesehen werden sollten, das bei richtigem Einsatz zu effektivem Menschenrechtsaktivismus beitragen kann und dessen volles Potential noch nicht ausgeschöpft ist.

Perspektive „Missbrauch“

„Nazis, Rassisten/-innen, Antisemiten/-innen & Co.: Warum Social Media so attraktiv für Menschenrechtsfeinde/-innen ist“

Die Internet-Community steht noch am Anfang, was den Umgang mit Menschenrechtsfeindlichem via Social Media angeht – gerade, wenn solche Inhalte subtil und nicht strafrechtlich relevant vorgetragen wird. Doch funktioniert die Mobilisierung über Social Media leider gerade auch für menschenrechtsfeindliche und abwertende Positionen, weil es hier leichter als im realen Leben ist, solche gesellschaftlich geächteten Positionen zu unterstützen und zu verbreiten. Und die Verbreitung von rassistischen, menschenfeindlichen und diskriminierenden Inhalten geschieht gezielt über Social Media, um einen Normalisierungseffekt zu erzielen. Für eine menschenrechtsbasierte Gesprächs- und Streitkultur im Internet müssen Unternehmen und User/innen gemeinsam gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.

Warum ist Social Media so attraktiv für Menschenrechtsfeinde/-innen?

Im Unterschied zur Offline-Welt, wo man dem Neonazi-Nachbarn mit seinem Infostand auf dem Marktplatz aus dem Weg gehen kann, sind in Sozialen Netzwerken Nutzerinnen und Nutzer mit rechtsextremen Inhalten nur wenige Klicks entfernt. Rechtsextreme Postings, Kampagnen, Profile und Seiten werden durch die Share-Funktion oft schnell vom rechtsextremen „Sender“ entfernt und weitergeteilt, ohne dass die rechtsextreme Quelle noch erkennbar ist. Zudem begünstigen Share-Funktionen und Kommentarspam-Aktionen von Neonazis die scheinbare „Normalisierung“ menschenfeindlicher Haltungen. Je öfter sie gesehen, gelesen und geklickt werden, desto sagbarer erscheinen sie.

Die Gleichwertigkeit aller in Deutschland lebenden Menschen steht als Ziel im Grundgesetz, allerdings ist es im praktischen Leben mit dieser Gleichwertigkeit oft nicht weit her. Rassistische, antisemitische, sexistische Vorurteile, geschichtsrelativierende oder demokratiefeindliche Argumentationen – ob im Spaß oder im Ernst geäußert – sind in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet. Dies eröffnet für Ideologinnen und Ideologen mit menschenfeindlichen Haltungen eine völlig neue Welt, nämlich eine, in der Kontakt nicht nur zu Anhänger/innen der eigenen Szene problemlos möglich ist, sondern auch zur nicht-rechten Mehrheitsgesellschaft. Dazu werden häufig auch scheinbar unpolitische Themen und Kampagnen genutzt.

Während weltweit gegen Zensur und Bevormundung durch undemokratische Regierungen, undurchsichtige Gesetzgebung oder unkontrollierbare Großunternehmen gestritten wird, freuen sich die Neonazis in Deutschland und vielen anderen Teilen der Welt, weil sie den Meinungsfreiheitsdiskurs für ihre eigenen Zwecke nutzen können. „Ist das eure Meinungsfreiheit, in der meine Beiträge gelöscht werden, nur weil sie euch nicht in den Kram passen?“ ist ein gern genutztes Nazi-Argument in Foren und Gruppen, das viele Demokraten/-innen verunsichert, weil es sie in den Grundfesten ihrer Überzeugung trifft. Doch da, wo andere Menschen durch Ausnutzung der Meinungsfreiheit diskriminiert oder ausgegrenzt werden, kann „Meinungsfreiheit“ nicht als einziges Paradigma gelten.

Die Betreiberinnen und Betreiber Sozialer Netzwerke müssen ihre Verantwortung als Unternehmen wahrnehmen, sich der Problematik rechtsextremer Propaganda in ihren Netzwerken zu stellen und sich klar dagegen zu positionieren. Und die User/innen tragen im Internet wie im Offline-Leben Verantwortung für die Werte und Diskussionskultur, die sie selbst mitgestalten.

Co:Base Langfassung (Co:Base-exklusive Langfassung)
Kernthesen:

  1. Mobilisierung über Social Media funktioniert - leider gerade auch für menschenrechtsfeindliche und abwertende Positionen.
  2. Positionen, die rassistische oder andere menschenfeindliche und diskriminierende Inhalte haben und in direktem Kontakt gesellschaftlich tabuisiert werden, werden gezielt über Social Media verbreitet, um einen Normalisierungseffekt zu erzielen.
  3. Die Internet-Community steht noch am Anfang, was den Umgang mit Menschenfeindlichkeiten via Social Media angeht – gerade, wenn diese subtil und nicht strafrechtlich relevant vorgetragen werden.
  4. Für eine menschenrechtsbasierte Gesprächs- und Streitkultur im Internet müssen Unternehmen und User*innen gemeinsam gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Wie im richtigen Leben.



Warum ist Social Media so attraktiv für Menschenrechtsfeind*innen?

Neonazis sind in Deutschland eine Bevölkerungsgruppe von rund 25.000 Menschen, die gesellschaftlich relativ isoliert dasteht. Sie vertreten eine Ideologie des Rassismus, Antisemitismus und der Islamfeindlichkeit – gern auch mit Gewalt. Die Rechtsextremen verherrlichen das NS-Regime und leugnen den Holocaust. Sie sind somit Menschen, mit denen die meisten anderen Menschen nichts zu tun haben möchten – weil sie diese Meinungen nicht teilen. Oder zumindest, weil sie befürchten, persönliche Nachteile zu erleben, wenn sie am NPD-Stand als Unterstützer*innen gesehen oder als Verteiler*in rechtsextremer Schülerzeitungen identifiziert würden.

Die Gleichwertigkeit aller in Deutschland lebenden Menschen wird im Grundgesetz als ein grundlegendes Ziel demokratischer Kultur benannt. Allerdings ist es im praktischen Leben mit dieser Gleichwertigkeit oft nicht weit her. Rassistische, antisemitische, sexistische Vorurteile, geschichtsrelativierende oder demokratiefeindliche Argumentationen - ob im Witz oder im Ernst geäußert - sind in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet. So stellten etwa Oliver Decker und Elmar Brähler in ihrer Studie „Die Mitte in der Krise“ bei rund 8 Prozent der Befragten ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Allerdings stimmen etwa rund 35 Prozent der Befragten rassistischen Aussagen zu und immer noch um die 7 Prozent klar antisemitischen Aussagen. Kein Wunder also, dass Social Media-Angebote für Ideologinnen und Ideologen mit menschenfeindlichen Haltungen eine völlig neue Welt eröffnen – nämlich eine, in denen Kontakt nicht nur zu Anhänger*innen der eigenen Szene problemlos möglich ist, sondern auch zur nicht-rechten Mehrheitsgesellschaft.

Dies funktioniert - auch bei Facebook und Co. - am besten, wenn sich die Rechtsextremen nicht sofort offen als Neonazis präsentieren, sondern als nettes Mädchen oder freundlicher Herr von nebenan. Die rechtsextreme NPD hat diese Chance bereits frühzeitig erkannt. Schon 2010 rief sie in ihrer Zeitschrift „Deutsche Stimme“ die Anhänger*innen dazu auf, sich in sozialen Netzwerken freundliche Profile zuzulegen, diese mit möglichst vielen Details auszuschmücken, um Anknüpfungspunkte für Gespräche zu bieten und möglichst vielen, völlig politikfernen Seiten und Gruppen beizutreten, um dort die eigene, hasserfüllte Ideologie zu streuen. Und so finden sich in sozialen Netzwerken Profile von Holger Apfel (NPD), Ricarda Riefling (Ring Nationaler Frauen) und Udo Voigt (NPD), die auch an Gruppen teilnehmen wie etwa „Sonne und Strand“ oder „Segeln“.

Als noch erfolgreicher erweisen sich allerdings Neonazi-Kampagnen bei Facebook und Co., die gesellschaftlich relevante Themen aufgreifen und missbrauchen, um darüber Menschen in ihren Bann zu ziehen, die diese Kampagnen unterstützen, ohne dabei Neonazis unterstützen zu wollen (zuminste nicht bewusst). So ist zum Beispiel das Thema Kindesmissbrauch eines der Themen, die Neonazis gern besetzen, um sich engagiert zu geben und mit nicht-rechten Menschen in Kontakt zu kommen. Zu diese hochemotionalen Thema gibt es schließlich nur eine Meinung: Mitleid mit den Opfern und der Wunsch nach Strafe für die Täter. Nazi-Kampagnen zum Thema heißen „Keine Gnade für Kinderschänder“ oder neuerdings – nach Gegenwehr - neutraler „Deutschland gegen Kindesmissbrauch“. Dort werden zunächst scheinbar themenrelevante Dinge gepostet, bis der Kreis der Unterstützerinnen und Unterstützer eine gewisse Größe erreicht hat, um dann auf Reden rechtsextremer Funktionäre zum Thema aufmerksam zu machen („Die anderen Parteien tun alle nichts, nur die NPD!“) oder Blogartikel rechtsextremer Organisationen zu nutzen, um rassistischen Argumentationen den Anschein von Neutralität und Wahrhaftigkeit zu geben. Auch beliebt bei Rechtsextremen sind auch Themen im Bereich Umweltschutz und Kindererziehung, aber auch EU-Müdigkeit und Anti-Euro-Mentalitäten. Ganz aktuell suchen antisemitische Verschwörungstheoretiker*innen Anschluss an die Occupy-Bewegung.

Man darf dabei nie aus den Augen verlieren, dass es Neonazis nicht bei subtilen Kampagnen belassen. Ihre wahre Einstellung zum Umgang miteinander zeigt sich im offensiven Einschüchtern und Bedrohen „Andersdenkender“ und Kritiker ihrer Seiten und Ideologien. Dies kann man häufig in Kommentarspalten zu scheinbar unpolitischen Themen erkennen. Auch wenn „Trolle“ in der Internet-Community oft nur als Provokation angesehen werden, bedeuten rechtsextreme Bedrohungen mehr als nur das. Sie verbreiten Angst und Schrecken, weil sie von Menschen ausgesprochen werden, die Gewalt und sogar Morde für eine „legitime“ Form der politischen Auseinandersetzung halten.

Und die Internet-Community?

Dies alles geschieht in einem Umfeld, in dem sich politische Internetaktivist*innen vor allem um die möglichst schrankenlose Freiheit des Internet Gedanken machen. Während also weltweit gegen Zensur und Bevormundung durch undemokratische Regierungen, undurchsichtige Gesetzgebung oder unkontrollierbare Großunternehmen gestritten wird, freuen sich die Neonazis in Deutschland und vielen anderen Teilen der Welt, weil sie den Meinungsfreiheits-Diskurs für ihre eigenen Zwecke nutzen können. „Ist das Eure Meinungsfreiheit, in der meine Beiträge gelöscht werden, nur weil sie Euch nicht in den Kram passen?“ ist ein gern genutztes Nazi-Argument in Foren und Gruppen, das viele Demokrat*innen verunsichert, weil es sie in den Grundfesten ihrer Überzeugung trifft. Oft genug bleiben volksverhetzende, menschenfeindliche und oder unterschwellig gewaltandrohende Postings stehen, um sich keinem Zensur-Vorwurf auszusetzen. Dies gilt für die Betreuer*innen von Seiten und Gruppen ebenso wie für ganze soziale Netzwerke. Die Folge, etwa in der Kommentarspalte eines beliebigen Mediums zu beobachten, das über Rechtsextremismus oder Integration berichtet: Wo ein rassistisches Postings stehengelassen wird, fühlen sich weitere Menschenfeinde motiviert, ihre Sicht der Dinge zu verbreiten – so lange, bis die Demokrat*innen, die dagegen halten, entnervt aufgeben. Was entweder dazu führt, dass rassistische Inhalte unwidersprochen im Netz stehen und dadurch für die mitlesende schweigende Mehrheit normalisiert und sagbar erscheinen. Oder dazu, dass die Kommentarspalten alsbald komplett geschlossen werden, weil die Community Manager*innen nicht wissen, wie sie mit der Fülle solcher Postings umgehen sollen. An solchen Stellen ist es antidemokratischen Rassist*innen erfolgreich gelungen, einen sachlichen Diskurs zu gesellschaftlich wichtigen Themen nicht nur zu stören, sondern schlussendlich sogar zu unterbinden.

Dies ist gesellschaftlich höchst bedenklich angesichts der Tatsache, dass die Zahl virtueller Einstiege von Jugendlichen in die rechtsextreme Szene seit Jahren stetig zunimmt wie die Aussteigerorganisation „EXIT“ beobachtet. Zudem ist allgemein eine Zunahme menschenfeindlicher Einstellungen in der Gesellschaft zu beobachten. Doch diese Dimension der negativen Ausnutzung von Meinungsfreiheiten ist vielen Aktivist*innen der politische Internet-Community nicht bewusst. Immer noch findet man Meinungen unter „Internetexpert*innen“, sexistische oder rassistische Kommentare seien nicht inhaltlich gemeint, sondern würden nur als maximale Provokation genutzt. Das erinnert an die 1990er Jahre, als die übliche Argumentation zu Hakenkreuz-Schmierereien war,di die Täter*innen seien nur „unpolitische“Jugendliche, die die aus reiner Provokation täten. 182 Todesopfer rechtsextremer Gewalt seit der Wende belegen hingegen die tödliche Dimension des Rechtsextremismus in Deutschland. Die Mörder der Zwickauer Todeszelle NSU waren genau solche Jugendlichen, die sich Monopoly-Spiele mit KZs statt Gefängnissen malten und aus reinem Rassismus 10 Menschen gezielt und brutal ermordeten.

Was tun bei Menschenrechtsfeindlichkeiten in den Sozialen Netzwerken?
Leider gibt es für die Bearbeitung des Rechtsextremismus und anderer menschenfeindlicher Ideologien keine einfachen Lösungen – auch in den sozialen Netzwerken nicht. Vielmehr müssen alle, die an der Kommunikation über Social Media beteiligt sind, Position beziehen und entsprechend handeln. Das ist meist mühsam, oft unbequem und führt regelmäßig zu Diskussionen über Werte und Grenzen. Dies ist jedoch als Teil eines demokratischen Meinungsbildungsprozesses unerlässlich.

Die Betreiber*innen von Sozialen Netzwerken
Soziale Netzwerke haben in der Regel allgemeine Geschäftsbedingungen, die Diskriminierungen, Hassrede, Gewaltaufrufe oder „Extremismus“ verbieten. Das ist gut, weil es die Handlungsgrundlage liefert, um dagegen vorgehen zu können. Meist bieten die Formulierungen in den AGBS jedoch einen großen Spielraum, wie dies nun in der Praxis umzusetzen sei und es liegt jeweils im Ermessen des Netzwerks mehr oder weniger schnell und ausgefeilt darauf zu beharren. Zudem bearbeiten im Regelfall Betreiber*innen Rechtsextremismus auf ihren Plattformen über technische Lösungen. Bestimmte Nicknames, Bilder und rechtsextreme Kernbegriffe etwa sind schon bei der Anmeldung mittels Filtersoftware verboten. Dies ist als Zeichen sehr wichtig, hat aber oft zur Folge hat, dass sich statt „Adolf Hitler“ eben „Ady H.“ anmeldet und seine Intention per Bild und Beschreibung trotzdem klarmacht. Das wichtigste Instrument des Netzwerks selbst können spezialisierte Customer Care-Teams sein, die sich mit verschiedenen Formen von Menschenfeindlichkeit auskennen. Diese gibt es zum Teil, meist allerdings sind sie zu klein, bei deutschen Netzwerken oft auch dezentral und ehrenamtlich organisiert und teilweise von ihren Unternehmen im Handlungsspielraum stark eingeschränkt – etwa, wenn bei Facebook vor allem strafrechtlich Relevantes gelöscht wird. Dies wissen die Menschenfeinde sehr wohl und habe es schon lange verstanden, dies zu unterwandern. Hier wäre zum einen eine Professionalisierung und Ausweitung der Teams wünschenswert und viel mehr noch der Mut, gesellschaftliche Verantwortung ernsthaft wahrzunehmen und auch nicht strafbaren (und oft trotzdem wenig subtilen) Menschenhass nach fachkundiger Prüfung konsequent zu löschen. Denn das zeigen das Monitoring des Projektes „no-nazi.net – für Soziale Netzwerke ohne Nazis“ deutlich: Das wirksamste Mittel ist es, den Neonazis den Spaß an der Hetze auf ihrer Plattform zu nehmen. Es geht nicht darum, allgemein die Meinungsäußerung von Neonazis im Internet zu verbieten. Es gibt genug genuin rechtsextreme Blogs, Chats und Netzwerke, die dies „sicherstellen“. Doch jedes Unternehmen kann sich überlegen, ob es ausgerechnet die eigene Plattform sein muss, in der Nazis ihre Menschenfeindlichkeit als scheinbar legitime Einstellung zwischen Kinderbildern und Lieblingsfernsehserien einer großen Öffentlichkeit präsentieren. Wer dies verneint, muss und sollte aber nicht nur mit Restriktionen reagieren: Auch das Unterstützen demokratischer Initiativen für Menschenrechte stellt eine erfolgreiche Positionierung für Werte dar.

Die User*innen
tragen im Internet wie im Offline-Leben Verantwortung für die Werte und Diskussionskultur, die sie selbst mitgestalten. Der erste Schritt ist, über menschenfeindliche Inhalte nicht einfach hinwegzulesen und zu hoffen, dass sie sich „versenden“, sondern sich Reaktionen zu überlegen. Dazu gehört die Meldung an das Soziale Netzwerk, wenn man auf deutlich rechtsextreme Inhalte stößt. Dazu gehört auch, gesellschaftliche Zustände zu thematisieren, die einen stören und Informationen im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis zu teilen – und es argumentativ auszuhalten, dass es selbst unter „Freund*innen“ immer wieder Menschen gibt, die bei alltagsrassistischen oder sexistischen Themen an die Grenzen ihrer Toleranz stoßen. Wer auf rechtsextreme Diskurse in Gruppen, Foren und Kommentaren stößt, kann Taktiken erlernen, sich zwar nicht mit dem überzeugten Neonazi auf eine sinnlose und energieraubende Diskussion einzulassen, aber die mitlesende schweigende Mehrheit anzusprechen, sich zu positionieren, verbal Angegriffene zu schützen und sich Mitstreiter*innen zu suchen. NGOs wie die Amadeu Antonio Stiftung helfen mit Projekten wie „no-nazi.net – Für Soziale Netzwerke ohne Nazis“ oder netz-gegen-nazis.de dabei, rechtsextreme Argumentationen zu erkennen und erfolgversprechende Gesprächsstrategien zu erlernen. Nicht zuletzt können sich User*innen in Sozialen Netzwerken für Menschenrechte engagieren, mit Aufklärungsseiten etwa über rechtsextreme Kampagnenthemen oder mit Humor, wie jüngst die „Arbeitskreise der NPD“ auf Facebook. Hier hat eine Gruppe von Aktivist*innen den Aufruf des aktuellen NPD-Vorsitzenden Holger Apfel ernst genommen, der sich mehr inhaltliche Arbeitskreise wünschte. Jetzt gibt es auf Facebook etwa den „Arbeitskreis der Nassrasiererverkäufer in der NPD“, den „Arbeitskreis der paranoider Verschwörungstheoretiker in der NPD“ oder den „Arbeitskreis Armgelähmte in der NPD“, und alle kommentieren fleißig auf rechtsextremen Seiten und bringen die Rechtsextremen zur Weißglut. Ein guter Nebeneffekt: Wer nun bei Facebook „NPD“ eingibt, bekommt zunächst nicht die offizielle Seite der rechtsextremen Partei angeboten, sondern zahlreiche der humoristischen Arbeitskreise.

Autoren
Sherry Basta
Isabel Gahren
Sherry Basta
Linda Walter
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